Abū Dschaʿfar Muhammad ibn Dscharīr at-Tabarī (gest. 923 n. Chr. zu Badgad) gilt allgemeinhin als einer der renommiertesten muslimischen Gelehrten des klassischen sunnitischen Islams. Besondere Bekanntheit und Relevanz genießen bis zum heutigen Tage vor allem sein Korankommentar Dschāmiʿ al-bayān ʿan taʾwīl āy al-Qurʾān (Zusammenfassung der Erläuterungen zur Interpretation der Koranverse) und sein Geschichtswerk Muchtasar taʾrīch ar-rusul wa-l-mulūk wa-l-chulafāʾ (Kleiner Abzug über die Geschichte der Propheten, Könige und Kalifen), das von der Schöpfungsgeschichte über die biblischen Propheten bis in at-Tabarīs Zeit (915 n. Chr.) reicht.
Aus dem zuletzt genannten Geschichtswerk stammt folgender kleiner Auszug:
»Then he mounted one day, and found David walking in the wilderness, while Saul was on a horse. Saul said, “Today I shall kill David.”
When David became alarmed, he could not be overtaken. Saul ran at David’s heels, but David became alarmed and ran faster. He entered a cave, and God inspired a spider to spin its web over it. When Saul reached the cave, he looked at the spider’s web and said, “If he had entered here, he would have torn the spider’s web.” So he was fooled and left him.«
(Quelle: The History of al-Tabari / Ta’rīkh al-rusul wa’l mulūk, The Children of Israel / Volume III, Translated by William M. Brinner, University of California, Berkeley, State University of New York Press, Seite 137)
Link => https://books.google.co.uk/books?id=W2YcEaE7BasC&lpg=PA137&hl=de&pg=PA137#v=onepage&q&f=false
Übersetzung:
»Dann stieg er (Saul) eines Tages auf (sein Pferd) und fand David, der in der Wildnis wandelte, während Saul auf einem Pferd saß. Saul sagte: “Heute werde ich David töten.”
Als David alarmiert wurde, konnte er nicht mehr überholt werden. Saul war David zwar auf den Fersen, aber da David alarmiert wurde, rannte er schneller. Da betrat er eine Höhle, und Gott inspirierte eine Spinne, ihr Netz darüber zu spinnen. Als Saul die Höhle erreichte, sah er sich das Spinnennetz an und sagte: “Wäre er hier eingetreten, hätte er das Spinnennetz zerrissen.” Also wurde er getäuscht und verließ ihn.«
Bemerkenswert ist, dass at-Tabarī diese Begebenheit Davids mit Saul nicht aus islamischen Primärquellen (sprich: Koran & prophetische Überlieferungen) hatte, sondern es sich um eine antike jüdische Erzählung handelt, die u.a. durch einen aramäischen Targum überliefert wurde.
Targumim (so der Plural) sind antike Abschriften der hebräischen Bibel (hebr.: Tanach) in die aramäische Sprache (da Aramäisch unter den damaligen Juden Umgangssprache war), die ergänzend zum Bibeltext noch kurze Erklärungen und Kommentare enthalten konnten.
Im Buch der Psalmen (hebr.: Tehilim) der hebräischen Bibel – unter den Muslimen als Zabūr bekannt – steht in Psalm 57, Vers 1-3, folgendes:
»(1) Für den Chormeister. Nach der Weise Verdirb nicht! Von David. Ein Miktam-Lied. Als er vor Saul floh. In der Höhle. (2) Sei mir gnädig, Gott, sei mir gnädig, denn ich habe mich bei dir geborgen, im Schatten deiner Flügel will ich mich bergen, bis das Unheil vorübergeht. (3) Ich rufe zu Gott, dem Höchsten, zu Gott, der mir beisteht.«
Quelle: Bibel, Einheitsübersetzung 2016 => https://www.bibleserver.com/text/EU/Psalm57
Der erwähnte Targum zu diesen 3 Versen des 57. Psalms lautet:
(Quelle: The Psalms Targum: An English Translation, Edward M. Cook => targum.info/pss/ps2.htm)
Etwas ausführlicher wird diese Erzählung noch im Alphabet des Ben Sira (hebr.: Otijot ben Sira) dargelegt.
Viele muslimische Leser werden bis hier vermutlich schon hellhörig geworden sein, die meisten jüdischen Mitleser hingegen warten sicherlich noch auf die Verbindung zum Islam.
Was an dieser Geschichte mit der Höhle, der Spinne und dem Spinnennetz fasziniert, ist die Parallele zu einer islamischen Überlieferung, die in der monumentalen Sammlung al-Musnad des frühen Großgelehrten Ahmad ibn Hanbal (gest. 855 n. Chr. zu Bagdad) unter der Nummer #3241 verzeichnet ist. Diese Überlieferung nimmt direkten Bezug auf folgenden Vers im Koran (ungefähre Bedeutung):
»Und als diejenigen, die ungläubig sind, gegen dich Ränke schmiedeten, um dich festzusetzen oder zu töten oder zu vertreiben. Sie schmiedeten Ränke, und (auch) Allah schmiedete Ränke. Aber Allah ist der beste Ränkeschmied.«
(Quelle: Koran, Sure 8 – Al-Anfal, Vers 30, Bubenheim-Übersetzung => http://tanzil.net/#trans/de.bubenheim/8:30)
Die genannte Überlieferung lautet wie folgt:
»Ibn `Abbās sagte: „Die Quraisch versammelten sich eines Nachts in Makkah. Einige von ihnen sagten: `Wenn der Morgen kommt, legt ihn in Ketten` – womit der Prophet gemeint war. Einige sagten: `Nein, tötet ihn.` und wieder andere sagten: `Nein, vertreibt ihn.` Allah informierte Seinen Propheten darüber. Daher schlief `Ali in dieser Nacht im Bett des Gesandten und der Prophet ging hinaus und versteckte sich in der Höhle. Die Götzendiener verbrachten die Nacht damit, auf `Ali zu warten, denn sie dachten, er sei der Prophet . Als der Morgen anbrach, stürzten sie sich auf ihn und erkannten `Ali, so durchkreuzte Allah ihren Plan. Sie sagten: `Wo ist dein Freund?` Er erwiderte: `Ich weiß es nicht.` Da hefteten sie sich an die Spur (des Propheten Mohamed) und als sie den Berg erreichten, waren sie verwirrt. Sie stiegen den Berg hinauf, gingen an der Höhle vorbei und sahen das Netz einer Spinne vor dem Eingang. Sie sagten: `Wenn jemand hineingegangen wäre, dann hätte die Spinne nicht ihr Netz vor dem Eingang spinnen können.` Er blieb dort für drei Nächte.«
Der Umstand, dass diese beiden Erzählungen sich so sehr gleichen, war gelehrten Muslimen seit jeher durchaus bekannt. Als at-Tabarī die jüdische Erzählung über David in seinem Geschichtswerk verwandte, war er sich dieser Ähnlichkeit fraglos bewusst, und ʿAṭāʾ al-Khurāsānī (gest. 752 n. Chr.), ein früher islamischer Rechtsgelehrter (faqīh) und Koranexeget (mufassir) der besonders geehrten zweiten nach-prophetischen Generation (tābiʿ al-tābiʿīn), soll sogar gesagt haben, dass es sich bei der Spinne die Mohamed rettete um die selbe gehandelt haben soll, die zuvor bereits David durch ihr Netz Gottes Schutz gebot (berichtet u.a. in Abū Nuʿaim, Ḥilyat al-auliyāʾ wa-ṭabaqāt al-aṣfiyāʾ, 10 Bände, Cairo 1938, Reprint Beirut 1967, in Band 5, auf Seite 197).
Unter den muslimischen Gelehrten der Hadith-Wissenschaften, die religiöse Überlieferungen auf ihre Authentizität untersuchten, war die Überlieferung aus der Sammlung des Ahmad ibn Hanbal allerdings umstritten.
Ein Ausschlusskriterium für eine religiöse Überlieferung ist für die muslimischen Hadith-Gelehrten nicht eine inhaltliche Ähnlichkeit mit jüdischen, christlichen oder anderen Erzählungen, sondern eine schwache oder nicht vorhandene Überlieferungskette. Vom Urheber der Überlieferung, bis zu demjenigen der sie klassifiziert, muss lückenlos jede Person namentlich genannt werden, die sie weitererzählte. Und jeder dieser Namen muss ebenso bekannt sein wie der Leumund seines Trägers.
Bezüglich dieser Überlieferungskette gab es unter den Gelehrten eine Meinungsverschiedenheit. Hierzu verweise ich auf das Rechtsgutachten #27224 (in englischer Übersetzung) des saudischen Rechtsgelehrten Muhammad Salih al-Munajjid auf seiner offiziellen Website => https://islamqa.info/en/answers/27224/overnight-stay-of-the-prophet-peace-and-blessings-of-allaah-be-upon-him-and-abu-bakr-in-the-cave-of-thawr
Hier folgt eine kurzer Auszug aus dem Rechtsgutachten in deutscher Übersetzung:
»Die Gelehrten sind hinsichtlich dieser Überlieferung unterschiedlicher Ansicht. Seine Überlieferungskette wurde von al-Hāfiz ibn Hajar in Fath al-Bāri sowie von ibn Kathīr in al-Bidāyah wa-l-Nihāyah (#3/222) als gut klassifiziert. Von al-Albāni wurde er in al-Silsilah al-Da`īfah als schwach eingestuft. Ahmad Schākir sagte in Tahqīq al-Musnad (#3251): „Es gibt einen Disput wegen seiner Überlieferungskette.“ Die Kommentatoren zu al-Musnad sagten: „Seine Überlieferungskette ist schwach.“ […]
Al-Albāni sagte in al-Silsilah al-Da`īfah (#3/339): „Man sollte zur Kenntnis nehmen, dass es keinen gesunden Hadīth bezüglich der Spinne […] bei der Höhle gibt, trotz der Tatsache, dass er in einigen Büchern und Vorträgen,[…] häufig genannt wird. Dies sollte nicht vergessen werden.”«
Und so ist diese Erzählung über den Propheten Mohamed, mit der Spinne in der Höhle, unter den Muslimen weit verbreitet und wird im Volksislam einiger muslimischer Regionen als wahr erachtet und in anderen eher nicht. In manchen muslimischen Kulturen resultiert aus dieser Erzählung sogar eine große Vorsicht im Umgang mit Spinnen, die, wegen der Rettung des Propheten durch eine Spinne, nicht getötet oder verletzt werden.
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السلام عليكم
Sehr interessant, vielen Dank!
Auf bald,
M. i. M.
PS: Die “Germanisierung” der Prophetennamen mit den hebräischen und arabischen Varianten in den Klammern finde ich sehr gut, und ebenfalls natürlich die deutsche Eigennamenform des Gottesnamens. Bei der Bezugnahme auf den Gesandten Gottes (s) würde ich aber Doppel-m empfehlen (“Mohammed”).
Wa alaykum assalam wa rahmatullah
Besten Dank für den Kommentar. Die Entscheidung, den Prophetennamen mit m oder mm zu schreiben, war tatsächlich nicht leicht und wurde quasi ad hoc getroffen.
Mit einem m wäre die gängigste germanisierte Schreibweise gewesen, aber mit zwei mm sieht es einfach korrekter aus. Vielleicht werden wir die Schreibweise noch ändern.
Solange es keinen gesunden Hadiess gibt über die Spinne,möchte ich mich der Meinung von Albani anschließen ,die diese Erzählung nicht unterstützen und ebenso die “Verehrung “der Spinne ist eine Innovation,die selbst wenn diese Geschichte wahr wäre,abzulehenen ist,denn das ist nicht in darin enthalten.Im Gegenteil im Quran heißt es,Das schwächste Haus ist das der Spinne(Sura al Anka it,Die Spinne).Warum?Sie macht selbst vor der eigenen Familie nicht halt und vertilgt das Männchen nach der Begattung sowie die eigene Brut,sofern sie ihr in die Finger kommen.