Das Fundament eines aufrichtigen Dialogs ist Ehrlichkeit. Wenn orthodox/konservativ praktizierende Gläubige – aus jeweils anderen Religionsgemeinschaften – miteinander in einen interreligiösen Dialog treten, dann machen sie das um sich kennenzulernen, aufzuklären und für den gesellschaftlichen Frieden. Hierbei müssen aber Unterschiede ebenso genannt werden wie Gemeinsamkeiten, denn nur so können gesellschaftliche Räume entstehen, in denen wir zusammen leben können, ohne unsere Religion aufgeben oder verwässern zu müssen.
Jehoschua Ahrens, Rabbiner in Nürnberg und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland, erklärte es im August 2018 in einem Interview mit folgenden Worten:
»Das heißt also, wir möchten keinen Dialog, in dem man einfach irgendwie von seiner eigenen Wahrheit etwas aufgibt und dann sagt, wir treffen uns in der Mitte – das ist Quatsch – , sondern es ist wichtig, dass man eben aus seiner Tradition und mit seiner Tradition einen Weg findet, wie man auch den Anderen respektieren und anerkennen kann. Und dass es da vielleicht auch mal unterschiedliche Ansichten gibt und dass es da auch Dinge gibt, an denen wir sicherlich theologisch nicht zusammenkommen, das ist klar, aber das bedeutet nicht, dass dadurch der Dialog leiden muss.«
(NDR Info – Schabat Schalom – Sendung vom 24.08.2018 / zitiert aus http://www.al-adala.de/Neu/betreff-unterschied-zwischen-orthodoxem-und-liberalem-interreligioesen-dialog-radio-podcast )
Eine solche (für einige vielleicht bitter klingende) Wahrheit ist, dass eigene Glaubensinhalte im Glauben des jeweils Anderen als Häresie (Irrlehre) gelten können, ja letztendlich sogar gelten müssen, und jeder, der aufrichtig seinen Glauben praktiziert, ist logischerweise auch von der Wahrheit der eigenen Glaubenslehre überzeugt.
Ein interreligiöser Dialog, der dieses Faktum leugnet oder aufheben möchte, mag in säkularen oder liberalen Kreisen möglich sein, konservative/orthodoxe Milieus hingegen müssen darauf bauen können, dass die elementaren Unterschiede in der Glaubenslehre & -praxis zugunsten eines gesellschaftlichen Friedens nicht angetastet werden. Hierzu ist aber auch ein fundiertes Wissen über diese Unterscheide notwendig, das man sich bestenfalls nicht von irgendwelchen antisemitischen und antimuslimischen Plattformen holt, sondern direkt vom Dialogpartner des Vertrauens.
In diesem Blogbeitrag geht es allerdings NICHT um so einen typischen Unterschied, was angesichts dieser langen Einleitung zur Thematik vielleicht etwas irritieren dürfte, sondern vielmehr um einen kurzen Satz, den (nach Auffassung des Autors) die Mehrheit der zeitgenössischen Muslime fälschlicherweise für einen bestehenden fundamentalen jüdischen Glaubensinhalt hält.
Quelle dieses kurzen Satzes ist der Koran, in dem es sinngemäß heißt:
»Die Juden sagen: “Uzair ist Allahs Sohn”, und die Christen sagen: “Al-Masih ist Allahs Sohn.” […]«
(Quelle: Koran, Sure 9 – at-Tauba, Vers 30, Bubenheim-Übersetzung => http://tanzil.net/#trans/de.bubenheim/9:30)
Für den gewöhnlichen Muslim, wenn er dies im Koran liest, ist die Sache klar. Der Koran ist das wahre und ewig gültige Wort Gottes (arab.: kalamullah), und wenn Gott sagt »Die Juden sagen: “Uzair ist Allahs Sohn”«, dann ist das wahr und ewig gültig.
Dass »Christen sagen: “Al-Masih ist Allahs Sohn.”« (wobei al-Masih hier für den Messias – sprich: Jesus – steht) ist allgemein bekannt und wird in der islamischen Glaubenslehre als höchste Häresie, nämlich Götzendienst bzw. Beigesellung (arab.: schirk), betrachtet.
Dass »die Juden sagen: “Uzair ist Allahs Sohn”« ist hingegen unter Nichtmuslimen (und hier besonders gerade unter Juden) anscheinend vollkommen unbekannt, so zumindest war der Eindruck des Autors, wenn speziell im digitalen Raum dieser koranische Vorwurf auf Menschen jüdischen Glaubens stieß.
Die Leugnung dieses Satzes durch zeitgenössische Juden stellt einige Muslime allerdings vor ein Dilemma, denn entweder Gott irrt oder der Jude lügt. Man braucht kein Genie zu sein, um sich denken zu können, welche dieser Optionen beim allgemeinen Muslim mehr Anklang findet.
Das Traurige ist, dass sich viele Muslime mit dieser letzteren Option zufrieden geben, anstatt sich tiefer in die Materie zu begeben. Der Autor hat dies (im Rahmen seiner Fähigkeiten) getan.
Koranübersetzung(en)
Da sich dieser Beitrag in erster Linie an deutschsprachige Leser wendet, sei zu aller Anfang auf das Thema Koranübersetzung hingewiesen. Übersetzungen des Korans sind für den rituellen Gebrauch und die Normenfindung unbrauchbar, da eine Übersetzung in den meisten Fällen nur einen Sinn in die andere Sprache übertragen kann, während für bestimmte Worte oder Sätze in der Originalsprache immer auch mehrere Bedeutungen möglich sind. Zudem können sich in Übersetzungen kleine Fehler einschleichen, die in der Normenfindung gravierende Auswirkungen möglich machen.
Ein solch kleiner Fehler soll hier am Beispiel des hiesigen Gegenstandes aufgezeigt werden. Weiter oben wurde bereits die sogenannte Bubenheim-Übersetzung bemüht. Sie wird so genannt, weil sie u.a. von Abdullah as-Samit Frank Bubenheim übersetzt wurde. Sie wird vom König-Fahd-Komplex zum Druck vom Qur’an in al-Madina al-Munauwara unter Aufsicht des Ministeriums für Islamische Angelegenheiten, Stiftungen, Da-Wa und Rechtsweisung im Königreich Saudi-Arabien herausgegeben und gilt als offizielle saudische Übersetzung. Ihr wird nachgesagt, sie sei nahe am originalen Wortlaut. Hier noch einmal der Auszug aus dieser Übersetzung:
»Die Juden sagen: “Uzair ist Allahs Sohn”, und die Christen sagen: “Al-Masih ist Allahs Sohn.” […]«
(Quelle: Koran, Sure 9 – at-Tauba, Vers 30, Bubenheim-Übersetzung => http://tanzil.net/#trans/de.bubenheim/9:30)
Eine unter Muslimen in Deutschland sehr verbreitete Übersetzung ist die von Abu-r-Rida Muhammad Ibn Ahmad Ibn Rassoul (gest. 2015). In seiner Übersetzung lautet der Auszug wie folgt:
»Und die Juden sagen, Esra sei Allahs Sohn, und die Christen sagen, der Messias sei Allahs Sohn. […]«
(Quelle: Koran, Sure 9 – at-Tauba, Vers 30, Ibn-Rassoul-Übersetzung => http://tanzil.net/#trans/de.aburida/9:30)
Diese beiden Übersetzungen gleichen sich weitestgehend, wobei Ibn Rassoul den Vers richtigerweise mit einem “und” beginnen lässt und – indem er die vorherrschende Gelehrtenmeinung, dass mit Uzair der israilitische Priester Esra (Buch Esra im Tanach bzw. Alten Testament) gemeint sei – bereits eine Deutung einfließen lässt.
Den kleinen aber bedeutenden Unterschied jedoch erkennen wir, wenn wir diesen Vers aus der Koran-Übersetzung von Amir Muhammad Adib Zaidan betrachten.
»Und die Juden sagten: “Uzair ist ALLAHs Sohn. Und die Nazarener sagten: “Almasih ist ALLAHs Sohn.” […]«
(Quelle: Koran, Sure 9 – at-Tauba, Vers 30, Amir-Zaidan-Übersetzung => http://tanzil.net/#trans/de.zaidan/9:30)
Amir Zaidans Übersetzung ist dafür bekannt, dass sie für manche Begriffe eine leicht redigierte Transkription anbietet, anstatt sie zu übersetzen und somit möglicherweise zu deuten. Uzair bleibt Uzair und wird nicht zu Esra, die Nazarener bleiben Nazarener und werden nicht zu Christen und Almasih bleibt Almasih und wird nicht zu Jesus oder dem Messias.
Der für uns maßgebliche Unterschied zu den beiden vorigen Übersetzungen liegt allerdings in der Zeitform. Bubenheim und Ibn Rassoul lassen die Juden im Präsens (der Gegenwart) sprechen, wohingegen Amir Zaidan sie im Präteritum (Vergangenheit) sprechen lässt. Ein Unterschied, den wir auch in zahlreichen englischsprachigen Übersetzungen finden. Dabei macht es doch einen Unterschied, ob die Juden gegenwärtig (sprich: heutzutage) etwas sagen oder ob sie es in der Vergangenheit mal gesagt haben.
Tatsächlich wird im arabischen Original die Vergangenheitsform benutzt. Dies ist zumindest dahingehend wichtig, dass es bereits das Dilemma auflöst, in dem sich manche Muslime wiederfinden, wenn zeitgenössische Juden diese Aussage für sich und das gegenwärtige Judentum vehement abstreiten.
Allgemeiner Ausdruck, partikulare Bedeutung
Eine wichtige Regel in der arabischen und somit Ritus- und Normen-Sprache des Islams lautet – etwas verkürzt – Allgemeiner Ausdruck, partikulare Bedeutung (arab.: aleam aldhy urid bih alkhusus). Es geht kurz und knapp darum, dass eine allgemeine Nennung wie “die Juden” im Arabischen nicht alle Juden meinen muss, sondern nur auf eine kleine Gruppe, ja sogar nur 2 oder 3 Personen unter ihnen abzielen kann. Diese Regel wurde bereits im Beitrag Wenn im Koran – in Verbindung mit den Israiliten – Affen und Schweine Erwähnung finden auf diesem Blog thematisiert und ist unter den muslimischen Gelehrten der Quellenforschung (arab.: Ilm al-Usul) ein Standard.
An dieser Stelle ein kleines Beispiel. Im Koran steht sinngemäß:
»Er [der Wind] wird alles zerstören auf den Befehl seines Herrn.” Und am Morgen sah man nur noch ihre Wohnungen; so üben Wir Vergeltung am schuldigen Volk.«
(Quelle: Koran, Sure 46 – al-Ahqaf, Vers 25, Ibn-Rassoul-Übersetzung => http://tanzil.net/#trans/de.aburida/46:25)
Obwohl hier gesagt wird, dass der Wind auf Befehl seines Herrn “alles” zerstören wird, lesen wir gleich im Anschluss, dass daraufhin am Morgen nur noch ihre Wohnungen zu sehen waren. Dies ist kein Widerspruch, sondern durchaus üblich in der arabischen Sprache. Und damit kommen wir zur folgenden Frage:
Wer waren “die Juden”?
Um zu erfahren, wer denn nun genau mit “die Juden” in diesem Koran-Vers gemeint ist, muss man die Werke der muslimischen Gelehrten lesen. Zuallererst sei hier Ibn Hadschar al-Asqalani (gest. 1449 n. Chr.) bemüht, der in seinem umfassenden Kommentar zur Sammlung prophetischer Überlieferungen bei al-Buchari sinngemäß folgendes schrieb:
Ibn al-Arabi sagte in Sharh at-Tirmidhi:
»Die Juden unserer Zeit leugnen die Idee, dass al-Uzair der Sohn Gottes ist, aber das bedeutet nicht unbedingt, dass diese Idee zur Zeit des Propheten nicht existierte, denn das wurde zu seiner Zeit offenbart, als die Juden bei ihm in Medina und Umgebung waren, und es gibt keinen Bericht, der darauf hindeutet, dass einer von ihnen (den Juden in Medina und Umgebung) [diese Aussage] abgelehnt oder kommentiert hat.
Es scheint so, dass diejenigen, die diese Ansicht vertraten, eine Gruppe unter ihnen bildeten, [es waren] nicht alle von ihnen, so wie es auch ein Fakt ist, dass diejenigen unter den Christen, die sagten, dass der Messias der Sohn Gottes sei, eine Gruppe unter ihnen bildeten, [es waren auch hier] nicht alle von ihnen.
So kann es sein, dass diese Gruppe [und ihre Aussage bezügl. Al-Uzair] inzwischen ausgestorben ist, so wie sich der Glaube der meisten Juden, vom Vergleich der Attribute Gottes mit denen des Menschen bis hin zum völligen Verleugnen Seiner Attribute, gewandelt hat, und der Glaube der Christen an den “Sohn” und den “Vater” symbolisch oder metaphorisch wurde und nicht mehr wörtlich genommen wird.«
(Quelle: Fath al-Bari, 3/359)
Der Gelehrte Abu Bakr al-Dschassas (gest. 981 n. Chr.) schrieb in seinem Werk der Koranexegese:
»In Bezug auf die Worte Gottes, des Hocherhabenen: „Und die Juden sagten: “Uzair ist Gottes Sohn”, und die Christen sagten: “Al-Masih ist Gottes Sohn.”, wurde gesagt, dass es sich um eine Gruppe unter den Juden handelt, die daran glaubte. […]
Ibn Abbas sagte: “Das sagte eine Gruppe von Juden, die zum Propheten kamen. Es waren Salam ibn Mashkam, Nu’man ibn Aufa, Shas ibn Qays und Malik ibn as-Sayf. So offenbarte Gott, der Hocherhabene, diesen Vers. Es gibt, soweit wir wissen, heute keinen unter den Juden, der das noch sagt; vielmehr war es nur diese Gruppe unter ihnen, die das gesagt hat, und sie sind ausgestorben.«
(Quelle: Ahkam al-Qur’an, 4/299)
Und zu guter Letzt noch ein Rechtsgutachten (arab.: Fatwa) aus der Sammlung des Gelehrten Taqi ad-Din Ahmad ibn Taimiya (gest.: 1328 n. Chr.):
»Ibn Taimiya wurde nach dem Vers gefragt, in dem Gott, der Hocherhabene, spricht: Und die Juden sagten: “Uzair ist Gottes Sohn”, und die Christen sagten: “Al-Masih ist Gottes Sohn.”: Haben alle von ihnen [den Juden] das gesagt oder nur einige von ihnen?
Und zu den Worten des Propheten: “Die Juden werden am Tag der Auferstehung kommen, und es wird zu ihnen gesagt werden: “Was hast du angebetet? Und sie werden sagen: “Uzair”. – gilt das für sie alle, oder nicht?
Er antwortete:
»Gelobt sei Gott. Was mit „die Juden“ gemeint ist, ist eine Gruppe von Menschen, wie in dem Vers, in dem Gott der Hocherhabene spricht: “Diejenigen, zu denen die Menschen sagten: “Die Menschen haben (sich) bereits gegen euch versammelt” [Koran 3:173].
Gott hat nicht gesagt: “Alle Menschen” bzw. “Alle Menschen haben sich gegen euch versammelt”. Vielmehr handelt es sich hier um eine [bestimmte] Gruppe von Menschen. Dies ist als ob gesagt wird, dass die eine oder andere Gruppe dies und jenes tut, oder bestimmte Leute dies und jenes tun.
Wenn einige von ihnen allerdings diese Ansicht vertraten und sie zum Ausdruck brachten und der Rest (derjenigen die es vernahmen) schwiegen und nichts dagegen hatten, dann haben sie alle einen Anteil an der Sünde die in dieser Ansicht liegt. Und Gott weiß es am besten.«
(Quelle: Majmu al-Fatawa , 15/47)
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السلام عليكم
Sehr guter Artikel! Der Hinweis auf die Vergangenheitsform ist tatsächlich wichtig. Gleichwohl sollte man sich nicht auf diese verlassen, denn die Handhabung der “Zeitformen” im Koran und im älteren Arabisch allgemein ist ein Thema für sich.
Zum Thema der Lehre von der Gottessohnschaft Esras siehe ergänzend: http://www.lichtwort.de/indikatoren/rang_esras_im_judentum.shtml
والسلام
Hervorragender Artikel, auch wenn die Verbformen im Arabischen noch ihre eigene Problematik haben und nicht unbedingt mit den Zeitformen in anderen Sprachen identisch ist.
Abgesehen von diesem Artikel wäre außerdem noch die Identität von ‘Uzair zu klären. Die Identitfikation mit dem biblischen Esra ist nich die einzige Möglichkeit. Es gibt vielmehr noch eine (in Wissenschaftskreisen skeptisch betrachtete) Theorie, nach der es um den ägyptischen Osiris geht. Bei den hier erwähnten Juden würde es dann um eine Gruppe gehen, die einer polytheistischen jüdischen Sekte in Oberägypten andgehörten oder nahestanden, die einen Tempel auf der Nilinsel Elephantine hatten, wo verschiedene Schriften gefunden wurden.